Fibonacci-Reihe

„Über die Kühlkeller der alten Bierbrauerei in Unna ragt ein hoher Schornstein. An dieser von der Erde in den Himmel weisenden, 52 Meter hohen, nach oben schlanker werdenden Wegmarke hat Mario Merz seine von ihm zum künstlerischen Symbol erhobene Zahlenreihe des Fibonacci anbringen lassen. Gewollt war, dass an dieser Stelle ein weit leuchtendes Merkzeichen entsteht, das auf das Zentrum für Internationale Lichtkunst hinweist. Wo besser also konnte diese mythische Zahlenreihe des Mönchs und Mathematikers Leonardo Fibonacci (1170–1240) angebracht werden, die Mario Merz zum Inbegriff seiner symbolisch-philosophischen Kunst gewählt hat?
Die Fibonacci-Reihe ist eine progressive Zahlenreihe aus der Addition ihrer letzten beiden Ziffern: 1–1–2–3–5–8–13–21–… Fibonacci hatte untersucht, in welcher Schnelligkeit sich Kaninchen vermehren, und er war anhand seiner Ergebnisse genau auf jene Progression gestoßen, die, durch andere Untersuchungen unterstützt, zum allgemeinen Prinzip von Wachstum und Evolution wurde. Mario Merz fasste den Gehalt der mathematischen Reihe in dem kurzen Satz zusammen: „Das Fortpflanzungsprinzip ist Raum und Zeit in einem.“ Er erkannte das Leben sowohl als Ausdehnung in den Raum als auch in die Zeit hinein, in der die Generationen folgen. Wachstum in diese beiden Richtungen bedeutet aber auch Entwicklung und Evolution in dem Sinne, dass sich wiederum Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbinden und in die Unendlichkeit hinführen: „So gießen die Zahlen den Raum in einen noch größeren Raum, der der unendliche Raum ist“, schreibt Merz und setzt fort: „So gießen die Zahlen die Zeit in einen noch längeren Zeitraum, der der unendliche Zeitraum ist.“
Der Künstler hat zweimal im Außenraum die Fibonacci-Reihe in raumgreifender Form als Neon-Zahlen angebracht: In Turin horizontal entlang der Mole Antonelliana und dann am Schornstein in Unna, aus den vom künstlerischen Licht erhellten Kellern in den kosmischen Raum des Sternenhimmels weisend, auf die Unendlichkeit von Zeit und Raum in einem deutend. Hier bedeutet die Progression der sechzehn in der Handschrift des Künstlers geschriebenen und an dem Schornstein befestigten Zahlen (55 Zentimeter hoch und zur Befestigung auf einen Metallrahmen gebracht) ein Hineingleiten in die weiterführende Zahlenkette, rhythmisch sich vergrößernd bis in die Ewigkeit von Zeit und Raum. Daneben kann die Zahlenprogression auch als Symbol und Hoffnung des Künstlers angesehen werden, dass die Evolution von Natur und Gesellschaft aus einer nun festliegenden Vergangenheit und einer erlebten, nicht vollkommenen Gegenwart in eine unbegrenzte und freie Zukunft fortschreite, die die natürliche und gesellschaftliche Entwicklung als Einheit empfindet: Wieder einmal treffen an dieser Stelle zwei grundsätzliche Ansatzpunkte des Merz’schen Werkes zusammen: Natur und menschliches Streben sind beide auf Vollkommenheit ausgerichtet – auch wenn das Ziel, genau wie die Unendlichkeit der Zahlenfolge, nie erreicht werden kann.“

(Text: Uwe Rüth, Mario Merz. Fibonacci-Reihe, in: Die Sammlung. Zentrum für Internationale Lichtkunst Unna, Köln 2004, S. 4248, hier: S. 4548)

Weitere Informationen: https://www.lichtkunst-unna.de/de/dauerausstellung#kuenstler


Mario Merz

1925
geboren in Mailand; 2003 gestorben in Turin.
 
Nach seinem kurzen Medizinstudium in Turin wird Merz Mitglied der antifaschistischen Widerstandsgruppe „Giustizia e Libertà“ (Gerechtigkeit und Freiheit).
1945
wird er im Zusammenhang mit seiner politischen Arbeit verhaftet und verbringt eine kurze Zeit im Gefängnis. Nach seiner Freilassung verbringt er einige Zeit in Rom und Paris. In dieser Zeit beginnt seine Hinwendung zur Kunst. Mario Merz lässt sich in Turin nieder. Anfänglich malt Mario Merz Ölbilder, ab 1960 schafft er informelle Spiralbilder.
ab 1966
wendet sich Merz von der informellen Kunst ab und sucht in den Dingen selbst Metaphern für den Zusammenhang zwischen Natur und Kultur. Er beginnt mit dem Bau seiner berühmten Lichtobjekte, kombiniert Neonröhren und Neonschrift mit alltäglichen Dingen wie Flaschen und Schirmen. Mit diesen Objekten wird Mario Merz zu einem der Hauptvertreter der Arte Povera.
ab 1968
entstehen die Merz-typischen Iglus, mit denen er eine metaphorische Form für den Zusammenhang zwischen Innen und Außen, für das Bergende und das Schützende findet.
ab 1969
tauchen im Werk von Mario Merz wiederholt die Fibonacci-Zahlen auf.
1977
kehrt er zur gestischen, farbig intensiven Malerei zurück, verbindet sie jedoch mit Gegenständen, den Fibonacci-Zahlen oder anderen ikonografischen Motiven.
 
Mario Merz gilt als ein Hauptvertreter der „Arte Povera“, deren Kunstwerke typischerweise Rauminstallationen sind, die aus gewöhnlichen und alltäglichen Materialen hergestellt werden. Er erforschte die Nahtstelle zwischen Natur und Intellekt. Seine Kunst schwebt zwischen Gegensätzen: Zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Logik und Sinnlichkeit, zwischen Zahl und Erzählung.

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Ort
Unna
Unna, Lindenplatz 1 (Schornstein des Zentrums für Internationale Lichtkunst)
Künstler
Mario Merz
Jahr
2000
Maße
Zahlen (je 55 cm hoch) am 52 m hohen Turm
Material
Neon-Zahlen auf Metallrahmen
Objektart
Lichtinstallationen
#nrwskulptur